Grusches Weg und Azdaks Urteil

Ein Beispiel des epischen Theaters
„Dies schreibend, sitze ich nur wenige hundert Meter von einem großen Theater. Ich habe also alle Möglichkeiten, aber ich kann nicht sagen, dass die Dramaturgien, die ich aus bestimmten Gründen nichtaristotelisch nenne, und die dazu gehörende epische Spielweise die Lösung darstellen. Jedoch ist eines klar geworden: Die heutige Welt ist den heutigen Menschen nur beschreibbar, wenn sie als eine veränderbare Welt beschrieben wird.“ (Brecht 1955)

Diese Feststellung formulierte Brecht nach der deutschsprachigen Erstaufführung des Kaukasischen Kreidekreises 1954, die an seinem eigenem Haus, dem „Theater am Schiffbauerdamm“ in Berlin, stattgefunden hatte. Der Kreidekreis gilt als die Musterinszenierung des epischen Theaters. Er geht auf eine von Klabund dramatisierte chinesische Legende zurück, die bereits den Titel Der Kreidekreis trägt. Brecht hatte 1940, im schwedischen Exil, zunächst eine Erzählung verfasst, noch mit dem Titel Der Augsburger Kreidekreis – zurückzuführen auf seine Heimatstadt. Der kaukasische Kreidekreis erscheint nur vier Jahre später und wird 1948 in englischer Sprache in Minnesota uraufgeführt.
Das Stück hat Brecht als Parabel geschrieben – sicher ein Teil seines revolutionären und neuen Theaterverständnisses.

Auf dem Weg zum Happy End? Anselm Müllerschön, Jojo Rösler und Isabella Szendzielorz in Der Kaukasische Kreidekreis | Foto: Nik Schölzel
Im Mittelpunkt steht die Magd Grusche. Sie rettet, während ein Aufstand tobt, ein Kind, das von der leiblichen Mutter zurückgelassen wurde. Da dieses Kind, Sohn des Gouverneurs und damit Alleinerbe, gesucht wird, ist Grusche nun selbst auf der Flucht. Sie wandert mit dem Schützling durch die Berge in den Winter. In Angst vor Soldaten und ohne Hilfe von Menschen, auf die sie trifft, schlägt sie sich bis zu ihrem Bruder durch. Doch auch dort soll sie nicht bleiben dürfen. Als sie, des guten Rufes wegen, eine Ehe mit einem Scheintoten eingeht, ist der Krieg kurz darauf zu Ende. Die Gouverneursfrau und leibliche Mutter des Kindes verlangt ihren Sohn und damit auch das fi nanzielle Erbe zurück. Der Fall kommt vor Gericht, dort sitzt inzwischen der ehemalige Dorfschreiber Azdak – ihn hat die Revolution in diese Position gespült. Der Richter Azdak hat zu prüfen, wer die wahre Mutter des Kindes sei. Er lässt einen Kreis aus Kreide auf den Boden zeichnen, das Kind wird in die Mitte gestellt und an beide Mütter geht die Aufforderung, am Kind zu ziehen. Für den Richter erweist sich Grusche, weil sie loslässt und nicht am Kind zieht, als die Mutter, der das Kind zugesprochen werden muss. Und so geschieht es.
Wem gehört was? Wem gehört die Macht und wie schnell oder durch wen kann sie wechseln? Was resultiert aus Machtverschiebungen und wer sind die Gewinner? Welchen Mechanismen folgt unsere Gesellschaft? Wer ist die „wahre“ Mutter des Kindes?
Vorangestellt hatte Brecht der Geschichte von Grusche und Azdak den „Streit um das Tal“, dessen Inhalt die Frage nach dem Landbesitz und der Landverwendung in einem kaukasischen Dorf ist. Sollen die Obstbauern das fruchtbare Land erhalten oder die Ziegenbauern oder soll das Land als Kolchosebesitz Teil einer Bewässerungsanlage werden? Meist wird diese Geschichte, der eigentliche Anlass innerhalb des Stückes, für die Aufführung des Kaukasischen Kreidekreises weggelassen. Es braucht diesen Ausgangspunkt nicht, um die sehr viel größeren Fragen, die Brecht stellt, aufzuwerfen: Wem gehört was? Wem gehört die Macht und wie schnell oder durch wen kann sie wechseln? Was resultiert aus Machtverschiebungen und wer sind die Gewinner? Welchen Mechanismen folgt unsere Gesellschaft? Und sicher auch die Frage nach DER Gerechtigkeit – wer ist die „wahre“ Mutter des Kindes?
Die Gouverneursfrau (Sina Dresp) und Küchenmagd Grusche (Jojo Rösler) bei der Kreidekreisprobe | Foto: Nik Schölzel
Eine weitere Quelle findet sich im biblischen Kontext: Salomos Urteil – auch hier wird eine Art Kreidekreisprobe durchgeführt, um die Mutterschaft festzustellen. In der biblischen Geschichte soll das Kind mit einem Schwert zerteilt werden, woraufhin die leibliche Mutter bereit ist, ihr Kind herzugeben. Wie in der chinesischen Legende und Klabunds Bearbeitung wird dieser auch in der Bibel das Kind zugesprochen. Bei Brecht geht das Urteil zum ersten Mal nicht zugunsten der leiblichen Mutter aus – statt nach biologischen wird hier nach sozialen Fragen entschieden.
Doch nicht nur mit der Dramaturgie seiner Erzählweise möchte Brecht, dass wir die Dinge im Hier und Jetzt und Miteinander verhandeln – sondern auch damit, wie er einen Theaterraum begreift: Wir schauen den Akteuren und Akteurinnen zu und werden von ihnen angesprochen. Man nimmt Kenntnis voneinander, anstatt die Theatersituation an sich illusionistisch zu ignorieren.
Theater soll ein Ort und Akt der Begegnung sein.
Man kommt zusammen, schaut sich ein Theaterstück an und tauscht sich aus über die Geschehnisse auf der Bühne, die vielleicht die Welt verändern können. Brecht hatte ein Theatergebäude, in dem er spielen konnte. Wir warten gerade noch auf die Fertigstellung und den Einzug in unser neues Theater – doch wir haben (wieder einmal) einen großartigen Ort gefunden, an dem wir die Geschichte des Kaukasischen Kreidekreises spielen: die Pfarrkirche St. Andreas in der Sanderau. Nicht nur die biblische Geschichte im Hintergrund des Stückes, auch die Kirche als Ort der Begegnung, zum Austausch, sowie der architektonisch faszinierende Bau aus den 60er Jahren in Pyramidenform sind Gründe, die Kirche als Theaterraum zu erschließen.
Das Ensemble spielt im beeindruckenden Ambiente der Kirche St. Andreas, die sich durch ihr hohes Pyramidendach und den Sichtbeton auszeichnet | Foto: Nik Schölzel
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