Leonhard-Frank-Stipendium 2022

EINE MUTIGE THEATERPOETIN

Laudatio für Wibke Charlotte Gneuß von Maria Milisavljevic
Mit Maria Milisavljevic ist in diesem Jahr zum ersten Mal eine international renommierte Theaterautorin Mitglied der Auswahljury. Lesen Sie hier ihre Laudatio für die Leonard-Frank- Stipendiatin 2022.
Maria Milisavljevic | Foto: Jochen Quast
In ihren Texten finden Geschichten Raum, die von Alltäglichkeit gekennzeichnet sind,
sich dieser jedoch nicht ausliefern.
Maria Milisavljevic
Theater ist ein Raum der Auseinandersetzung, der Beobachtung und des Entdeckens. Um einen Theatertext zu schreiben, der nicht nur seine Welt abbildet, sondern diese fortschreibt und erkundet, braucht es eine besondere Beobachtungsgabe, Mut, natürlich Schreibkunst und Poesie, aber auch die Fähigkeit, einen Zugang zu nicht immer einfachen Themen zu finden. Wibke Charlotte Gneuß ist eine mutige und klare Beobachterin und Theaterpoetin. Sie hört zu, sie sieht hin, sie gibt Raum. In ihren Texten finden Geschichten Raum, die von Alltäglichkeit gekennzeichnet sind, sich dieser jedoch nicht ausliefern. Im Gegenteil, Wibke Charlotte Gneuß zieht den Raum für Ungesagtes und Unsagbares größer, sie weitet ihn und schafft dadurch nicht nur neue Perspektiven, sondern starke Haltungen und sogar Grenzverschiebungen.

Ob dokumentarisch, dialogisch oder narrativ-poetisch, ihre Werkzeuge beherrschend nähert sie sich Themen wie Abtreibung, Gewalt, Ausgrenzung und Diskriminierung. Ihr Werk ist niemals wohlgefällig, sondern fordert sich selbst und das Publikum / die Lesenden heraus. Die eigenen Grenzen, das eigene Wohlgefühl sollen hier auf den Prüfstand gestellt werden. Aber mehr noch: Das Augenmerk soll weg von der eigenen Selbstbetrachtung. Denn Wibke Charlotte Gneuß hat das seltene und wertvolle Talent Geschichtenerzählerin und Weltbeobachterin zu sein – sie gibt sich nicht der Nabelschau hin, dem Talk in der eigenen Bubble, dem Übersteuern des subjektiv-erlebten Diskurses. Das zeichnet sie und ihre Texte auf großartige Weise aus.
Wibke Charlotte Gneuß taucht ein und fördert Gedankengut und Worte zutage, die berühren und zum Weiterdenken und -fühlen anregen.
Maria Milisavljevic
Wibke Charlotte Gneuß‘ konkrete Themen finden sich im Sozialpolitischen. Die Suche danach treibt sie an Orte, die sich oft fernab der direkten Sichtbarkeit auftun, die tabuisiert sind und für viele dadurch unzugänglich scheinen. Gesprächspartner Gesprächspartner: innen gefunden durch Zettel aufgehängt auf Cafétoiletten, intim-persönliche Erzählungen in Hinterhöfen, Dialoge hinter verschlossenen Wohnungstüren. Sie taucht ein und fördert Gedankengut und Worte zutage, die berühren und zum Weiterdenken und -fühlen anregen. Wibke Charlotte Gneuß beleuchtet das in unserer Gesellschaft oft Übersehene und Überhörte. Darin ist ihr Schreiben viel mehr als künstlerischer Ausdruck, sondern eine klare gesellschaftspolitische und empathische Praxis. Somit sind es nicht nur Wibke Charlotte Gneuß‘ Texte, die überzeugen, sondern auch ihre konkrete Vorgehensweise und Arbeitsweise als Künstlerin.
Zur Person
Maria Milisavljevic ist Theaterautorin, freie Dramaturgin und Übersetzerin. Sie studierte Englische Literatur und Kultur und promovierte über Produktionsbedingungen am Londoner Royal Court Theater. Ihre Stücke wurden u.a. ins Englische, Spanische, Französische, Portugiesische, Serbische, Bulgarische, Japanische und Koreanische übersetzt. Für ihr Stück Brandung gewann sie 2013 den Kleist-Förderpreis für junge Dramatik. Ihr Stück Beben wurde für den Mülheimer Dramatikerpreis 2018 nominiert, sowie mit dem Autorenpreis des Heidelberger Stückemarkts 2017 und dem Else-Lasker-Schüler-Stückepreis 2017 ausgezeichnet.