Leonhard-Frank-Stipendium 2022

HOFFNUNG, SO VIEL HOFFNUNG

Interview mit der neuen Leonhard-Frank-Stipendiatin
Wibke Charlotte Gneuß ist die Leonhard-Frank-Stipendiatin 2022. Ein Jahr lang wird sie nun eine Förderung erhalten, die es ihr ermöglicht, in Zusammenarbeit mit der Schauspieldramaturgie ein Stück zu entwickeln.

„Wibke Charlotte Gneuß ist eine mutige und klare Beobachterin und Theaterpoetin. Sie hört zu, sie sieht hin, sie gibt Raum. In ihren Texten finden Geschichten Raum, die von Alltäglichkeit gekennzeichnet sind, sich dieser jedoch nicht ausliefern. Im Gegenteil, Wibke Charlotte Gneuß zieht den Raum für Ungesagtes und Unsagbares größer, sie weitet ihn und schafft dadurch nicht nur neue Perspektiven, sondern starke Haltungen und sogar Grenzverschiebungen.“ So schreibt es Autorin Maria Milisavljevic, Mitglied der diesjährigen Jury, in ihrer Laudatio.

WIBKE CHARLOTTE GNEUSS, WAS ERHOFFEN SIE SICH VON DIESEM STIPENDIUM?
Das Stipendium beinhaltet einfach die Chance, mit einem ganzen Team gemeinsam einen Theaterabend zu entwickeln — das ist erstmal großartig! Ich freue mich sehr auf das Team in Würzburg und die Zusammenarbeit, in der ich sicher sehr viel lernen werde. Und ich hoffe, dass ich mich näher an meine eigene Sprache heranschreiben werde — das hoffe ich sogar sehr. Dazu kommt natürlich eine finanzielle Unterstützung, die für Menschen, die gerade beginnen künstlerisch zu arbeiten, sehr selten ist. Es ist einfach ein großes Glück, sich ernsthaft mit Literatur auseinandersetzen zu dürfen.
Stipendiatin Wibke Charlotte Gneuß | Foto: Jens Lamprecht
SIE SCHREIBEN SOWOHL FIKTIONALE TEXTE ALS AUCH DOKUMENTARISCHE. WAS REIZT SIE AM DOKUMENTARISCHEN SCHREIBEN?
Vor allem reizt mich der Mensch, der einfache Mensch, der in seiner Komplexität die ganze Welt ist; Liebe und Wut und Angst und Mut, und Hoffnung, so viel Hoffnung. Das dokumentarische Schreiben gibt mir die Chance, ein fremdes Innenleben zu verstehen und verstehbar zu machen. Dokumentarische Literatur kann also aus Fremden Vertraute machen, indem sie sich ganz einlässt auf den Anderen. Dabei berührt sie zwangsläufi g immer die großen metaphysischen Fragen, mit denen wir alle ringen. Dadurch ist sie oft so ehrlich, so groß. Das fasziniert mich.

WAS SIND THEMEN, DIE SIE BESONDERS INTERESSIEREN?
Ui, was für eine Frage! Mich interessiert natürlich alles! (lacht) Besonders aber interessiert mich der Mensch und seine soziale Interaktion; wie und warum wir glücklich, traurig, wütend, verletzt oder boshaft sind, diese Dinge. Außerdem beschäftige ich mich viel mit dem Land, in dem meine Eltern aufgewachsen sind und das es heute nicht mehr gibt. Die DDR und die Sowjetunion stehen heute nicht mehr auf der Landkarte, aber im Kopf. Das können wir heute in der Ukraine sehen. Die Frage, die mich gegenwärtig, umtreibt ist: Коли настане день Закінчиться війна? Wann kommt der Tag, an dem der Krieg zu Ende ist?

Zur Person
Wibke Charlotte Gneuß, 1992 geboren, studierte Soziale Arbeit in Dresden und Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, bevor sie als Gaststudierende zur Universität der Künste Berlin kam. Als Sozialarbeiterin war sie in einer Kindertagesstätte, bei einem Gefangenenmagazin der JVA Leipzig/Torgau und in verschiedenen Perfomanceprojekten mit unbegleiteten, minderjährigen Gefl üchteten tätig. Außerdem ist sie Teil der Perfomance-Gruppe um den Perfomance-Künstler Tino Sehgal. Wibke Charlotte Gneuß veröffentlicht zahlreiche Texte in Magazinen und Anthologien. Im Jahr 2022 ist sie erneut für den Preis der Jungen Dramatik nominiert. 2021 erhielt sie ein Aufenthaltsstipendium im Mare Künstlerhaus, das durch die Roger Willemsen Stiftung Hamburg gefördert wird.
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