Raus aus dem Stream

Rein ins Theater

Von Berthold Warnecke
Vorhang zu. Seit bald sechs Wochen befindet sich Deutschland nun im Lockdown, im Zustand der Massenquarantäne. Deutschland, Europa, die ganze Welt im Stillstand. Nichts geht mehr. Alles auf Null. Ohne Vorwarnung.
 
Wie in dem grandiosen Roman „Die Stadt der Blinden“ des portugiesischen Schriftstellers undLiteraturnobelpreisträgers José Saramago: Zuerstist da nur ein Autofahrer an einer Ampelkreuzung,der ohne Vorwarnung und aus heiteremHimmel erblindet; eine, wie es im Romanheißt, „unbekannte Art von Blindheit, die allemAnschein nach in höchstem Maße ansteckendwar und die sich ohne vorherige krankhafteMerkmale wie Entzündung, Infektion oderDegeneration manifestierte“. Vom „Ministerpersönlich“ stammt später der Vorschlag zurIsolation der mit dem „Weißen Übel“ Infizierten:„Man würde sie alle in Quarantäne schicken,um es mit allgemeinverständlichen Worten auszudrücken,ging es darum, einer alten Praxis ausden Zeiten der Cholera und des Gelbfiebers zufolgen, als infizierte Schiffe oder auch jene, dieunter Verdacht standen, infiziert zu sein, vierzigTage lang bis auf weiteres draußen vor Ankerliegen mußten.“ Schließlich werden die Blindender Einfachheit halber – andere Lösungen gingenschließlich zu Lasten der Industrie und desMilitärs – in die leerstehende Irrenanstalt gesperrt...
 
Düstere Aussichten also, folgt man der epidemischen Schreckensperspektive Saramagos; ungeachtet der Tatsache, dass im Roman die Blindheit – als Metapher auf die Unfähigkeit der Menschen zur kritischen Unterscheidung von Gut und Böse – am Ende auf ebenso wundersame Weise verschwindet, wie sie gekommen war. Auch am Mainfranken Theater haben Corona- Pandemie und Shutdown gnadenlos zugeschlagen: seit Wochen kein Proben- und Vorstellungsbetrieb; Produktionen wie die Komödie „Pension Schöller“ oder der Tanzabend „#mythos“ mitten in der Probenphase abgewürgt; das Aus für Wagners „Rheingold“ wenige Meter vor der Ziellinie, am Abend der Orchesterhauptprobe, drei Tage vor der Premiere. Wir fühlten uns wie die düpierten Rheintöchter, denen der Nibelung Alberich gerade das Gold abgeluchst hat: „So buhlt nun im Finstern, feuchtes Gezücht! Das Licht lösch’ ich euch aus, entreiße dem Riff das Gold ...“

Zu solcherart Frust und Enttäuschung gesellen sich die Sorgen und Ängste, die unmittelbar mit dem Virus und dem Risiko einer möglicherweise schweren Erkrankung verbunden sind. Und darüber schwebt schließlich und zu allem Überfluss für uns Theaterschaffende das Damoklesschwert der Systemrelevanz. Systemrelevanz: für mich schon jetzt das Unwort des Jahres 2020 – Platz 2 geht an „Diskussionsöffnungsorgien“.

Noch vor wenigen Wochen hätte ich niemals geglaubt, mich mit dieser Frage jemals ernsthaft beschäftigen zu müssen – nicht theoretisch, sondern ganz unmittelbar, existenziell. Wann ist denn ein Unternehmen, eine Institution in unserer modernen Gesellschaft systemrelevant? Geht es in erster Linie um Wirtschaftskraft? Um die Anzahl der betroffenen Arbeitsplätze? Die Anzahl der Likes in den sozialen Netzwerken? Aber: Kann eine für die Länder und Kommunen „freiwillige Leistung“ wie die der Kultur überhaupt systemrelevant sein? Angesichts aktueller Debatten gewinnt man den Eindruck, dass der Sport – und hier insbesondere der Fußball – im Unterschied zur Kultur eindeutig systemrelevant  ist. Dabei wäre es ein Leichtes – aber irgendwie auch unter Niveau –, diesen konkreten Vergleich zugunsten der Kultur zu entscheiden: 34,7 Millionen Menschen besuchten in der Saison 2017/18 Aufführungen deutscher Theater und Sinfonieorchester. Lediglich rund 18,8 Millionen Zuschauer verfolgten im selben Zeitraum die Spiele der ersten und zweiten Bundesliga in den Stadien; selbst die Besucher der Formel 1 mit eingerechnet, lägen die Theater immer noch vorn. Also vielleicht doch nach dem Shutdown zuerst die Theater und Konzerthäuser als systemrelevant öffnen, bevor König Fußball zu seinem Recht kommt?

Wie gesagt, eine solche Perspektive greift in der Sache zu kurz, nein: Sie greift, ehrlicherweise, an der Sache vorbei. Zumal es ja – auch hier in Würzburg – in der Diskussion nie ausschließlich  um wirtschaftliche Erwägungen und um das liebe Geld geht. Eher schon darum, wie es dieser Tage aus manchem Politikermund zu hören ist, dass ein Wochenende mit Fußball deutlich erträglicher sei als ein Wochenende ohne Fußball...

Lassen wir also – wenigstens für einen Moment – alle Schwermut zurück und blicken gelassen in die Zukunft, ganz im Vertrauen auf den Artikel 3 der Verfassung des Freistaates Bayern: „Bayern ist ein Rechts-, Kultur- und Sozialstaat. Er dient dem Gemeinwohl.“ Und durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, den Kulturstaat Bayern schon bald wieder in eine blühende Landschaft zu verwandeln, in deres sich zu leben und zu arbeiten lohnt!

Dabei bedeutet die gegenwärtige Situation des Shutdown für Kunst und Kultur zuvörderst sicher zweierlei: Krise und Katastrophe. Doch es lohnt sich, den Blick hinter die Bedeutung dieser Begriffe zu lenken, um eben nicht in eine Untergangsstimmung à la Saramago zu verfallen – im Gegenteil! In der antiken griechischen Tragödie markiert die Katastrophe den entscheidenden Punkt, der über das Schicksal der Protagonisten entscheidet: als Wendung zum Guten oder als Wendung zum Schlechten. Ähnlich lässt sich – im selben literarischen Kontext – die Krise als ein Wendepunkt oder als Zeit wichtiger Entscheidungen umschreiben. Derzeit, so scheint es mir, täten wir gut daran, diese Zeit wichtiger Entscheidungen als solche intensiv zu nutzen, statt über Exit-Strategien (noch so ein Unwort) zu grübeln. Die Zeit der Entscheidungen nutzen, um weder in Resignation noch in einen Krisen-Aktionismus zu verfallen: hier noch eine Online-Lesung, da ein kleines Geister- Duo aus dem Konzerthaus und immer dabei „Freude schöner Götterfunken“. Um nicht missverstanden zu werden: Es ist eindrucksvoll und ein großartiges Zeichen von Miteinander und Solidarität, wie sich Kulturschaffende – auch die Künstlerinnen und Künstler aller Sparten unseres Mainfranken Theaters – in diesen Tagen in den neuen Medien präsentieren, um anderen Menschen die Zeit der Quarantäne zu verschönern, um Trost und Zuversicht zu geben, oder um den vielen helfenden Händen in der Corona- Pandemie einfach „Danke!“ zu sagen.

Doch je mehr Beiträge solcher Art es gibt, umso schmerzhafter wird die Lücke, die geschlossene Theater, Konzerthäuser und Museen in unser aller Leben reißen. Und genau an diesem Punkt, so scheint mir, berühren sich die Debatten um die politische und wirtschaftliche „Systemrelevanz“ mit der Frage nach der Rolle und Relevanz des Theaters. Je länger der Shutdown andauert, desto größer die Gefahr, dass politische Kontrollorgane ausgehebelt werden. Wie viele Minister und Ministerpräsidenten wandeln dieser Tage nicht mit einer imaginierten Krone auf dem Haupt von einem Pressetermin zum nächsten Fotoshooting. So wie die Demokratie auf die Debatte im Plenarsaal, auf das unmittelbare, harte Nebeneinander von Rede und Gegenrede angewiesen ist, so ist auch das Theater auf ein Gegenüber, auf Gegenstimmen und auf das Publikum angewiesen. Schauspiel, Oper und Tanz bedürfen als darstellende Künste des Betrachters, des Zuschauers, des Interpreten. Theater lässt sich zwar am Schreibtisch planen und verwalten, aber eben nicht machen! Denn ohne Publikum, das durch das Spiel eine Reinigung (Katharsis) erfährt, ist eine Darbietung jedweder Art vieles, nur eines gerade nicht: Theater!

„Die Tragödie ist die Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“

So lautet der ebenso schwierige wie berühmte „Tragödiensatz“ des Aristoteles aus seiner um 335 vor Christus erschienenen „Poetik“. Als Aristoteles diese Zeilen schrieb, hatte sich bereits seit 200 Jahren aus den mythischen Feiern zu Ehren des Weingottes Dionysos in Athen das antike Drama geformt: „Im März des Jahres 534 vor Christus erfand der Dichter und Schauspieler Thespis zum Fest des Dionysos ein neuartiges Lied. Er wollte nicht mehr nur von den Mythen singen und tanzen, er wollte die alten Geschichten in lebendigem Spiel darstellen. Daher löste er sich aus der Gemeinschaft des Chores, berichtete ihm als Gegenüber, als Bote von fernem Geschehen, widersprach ihm auch, hielt ihm eine eigene Meinung entgegen. Thespis machte aus dem einstimmigen Gesang der Monodie den Dialog, das Zwiegespräch. Aus dem getanzten Lied entstand durch ihn das Drama und so das Theater.“ (Hubert Ortkemper)

 Es ist kein Zufall, dass die Uridee des Theaters und die Uridee der Demokratie am selben Ort und zur selben Zeit das Licht der Welt erblickten. Im Dionysos-Theater am Fuß der Akropolis in Athen kann dieser Zusammenhang bis heute erspürt werden. Nur ein paar Schritte neben dem Theater ragt ein kleiner Felsen empor, Areopag genannt; dort tagte in der Antike der oberste Rat. Entscheidungen der Politik erfuhren so gewissermaßen in Sichtweite ihre Ausdeutung im theatralen Spiel. Umgekehrt führte das Theater der Politik die Konsequenzen ihres Tuns vor Augen. Künstlerischer Ausdruck von Diktaturen und Monarchien mögen theatrale Paraden und Pamphlete sein. Künstlerisches Spiegelbild der Demokratie ist das Theater.

Die Geburtsstunde des Dramas ist auch die Geburt der demokratischen Rede und Widerrede. Darum muss das Theater – wie die Politik – laut sein und sich Gehör verschaffen; darum braucht Theater Streit und Streitkultur; darum wird am Theater um Meinungen und Haltungen gerungen – wo nötig auch mit harten Bandagen. Und darum gibt es nie die eine Perspektive, die Recht hat! Es wäre ein Geschenk der Krise, wenn sich alle auf diese Wurzeln des Theaters besinnen würden, um gestärkt aus dem Shutdown hervorzugehen. Vorhang auf!
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