Smetanas Heimatland

Ein Musik-Bekenntnis
Smetana komponierte den aus sechs sinfonischen Dichtungen bestehenden Zyklus „Má vlast“ zwischen 1874 und 1879. Das Werk spiegelt tief empfundene Verbundenheit zur böhmischen Heimat; verhandelt Marksteine der Landesgeschichte und des Brauchtums; beschreibt heimische Natur. Es ist eine wahrhaft musikalische Liebeserklärung an sein Land. Doch Smetana sollte das Werk nie hören.
1983 veröffentlichte Herbert Grönemeyer sein Lied „Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist“ und widmete sich darin einem Thema, das in seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit für einige Menschen Alltag ist. Menschen, deren Welt schreiend still ist. Menschen, die Klang nur wahrnehmen, wenn sie den Bass spüren. Ein Leben ohne die tönende Welt zu empfinden, ein Leben ohne Musik, bedeutet dieses Schicksal. Wie vielfach grausam muss es für einen Musiker sein, wenn das Gehör seinen Dienst versagt. Bekanntestes Beispiel der Musikgeschichte ist ohne Zweifel Ludwig van Beethoven, doch der Wiener Meister war nicht der Einzige, den dieses elende Schicksal ereilte.

Fluch der Stille

Als Klaviervirtuose war Ludwig van Beethoven in den 1790er Jahren nach Wien gekommen. Ihm standen Tür und Tore weit offen. Eine solch charismatische Erscheinung, gepaart mit jenem außergewöhnlichen Talent als Instrumentalist und Komponist, war auch im sensationsverwöhnten Wien eine Seltenheit. Doch wenige Jahre nach diesem fulminanten Start verschlechterte sich Beethovens Hörvermögen zusehends. Die Ärzte konnten dem Krankheitsverlauf keine heilbringende Therapie entgegensetzen. Schließlich zog sich der Tonschöpfer weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück und wählte künstlerisch die Flucht nach vorn: Seine Werke sprühten nur so vor Energie, Innovation und Kompromisslosigkeit.

Nicht nur Beethoven, sondern auch andere Komponisten und Musiker traf jenes harte Los: Der französische Komponist Gabriel Fauré hörte gegen Ende seines Lebens praktisch nichts mehr. Als Soldat im Ersten Weltkrieg erlitt wiederum der britische Komponist und Dirigent Ralph Vaughan-Williams gravierende Gehörschäden, die sich im Alter zur vollständigen Taubheit ausweiteten. Auch bei Smetana nahm die Krankheit ihren unaufhaltsamen Lauf. Was sich in den1860er Jahren angekündigt hatte, mündete in der Nacht zum 20. Oktober 1874 im vollständigen Hörverlust.

Musik fühlen

Musik – diese Entäußerung reinsten und intensiven Fühlens – ist ein Privileg der Hörenden. Wie man als Tonschöpfer mit einem solchen Schicksalsschlag umgeht, ist wohl sehr verschieden. Smetanas Schöpfertum jedenfalls war ungetrübt: Parallel zu Opernprojekten begann die Verwirklichung seines großen sinfonischen Werkes „Mein Vaterland“. Die ersten beiden Teile – „Vyšehrad“ und „Vltava“ – entstanden von September bis Dezember 1874. Im darauffolgenden Jahr schrieb er „Sárka“ und „Aus Böhmens Hain und Flur“. Erst um die Jahreswende 1878/79 vollendete er den Zyklus mit den letzten Dichtungen „Tábor“ und „Blaník“.

„Má vlast“, Smetanas emphatische Bekenntnismusik, ist heute eines seiner bekanntesten und meistgespielten Werke. Unter der musikalischen Leitung von Markus L. Frank stehen die sechs sinfonischen Dichtungen auf dem Programm des vierten Sinfoniekonzertes.
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