Premiere Musiktheater

Kunst, Leben und die liebe Familie

Die glückliche Hand und Gianni Schicchi zum Saisonauftakt
Bei der Probe zur Glücklichen Hand (v.l.) : Bariton Kosma Ranuer (Der Mann) und Regisseur Benjamin Prins | Foto: Tanja Schimscha
Mit einem Doppelabend startet das Musiktheater in die Saison 21/22. Regisseur Benjamin Prins bringt Arnold Schönbergs Glückliche Hand und Giacomo Puccinis Gianni Schicchi als große zusammenhängende Erzählung auf die Bühne. Am Pult steht Generalmusikdirektor Enrico Calesso. 

Zwei der aufregendsten Opernpartituren der frühen Moderne an einem Abend: Zunächst führt Schönbergs „Drama mit Musik“ Die glückliche Hand in zwanzig nervös-drängenden Minuten das verzweifelte Ringen eines genialischen, von Selbsthass zerfressenen Künstlers mit sich und der Welt vor Ohren und Augen. Obwohl von den Stimmen seines Unterbewusstseins ermahnt, er sei zu Höherem berufen, sehnt sich der namenlose Protagonist nach der Liebe. Doch das Ziel scheint unerreichbar. „Musstest du‘s wieder erleben, was du so oft erlebt? […] Du Armer!“, rufen die Stimmen dem gebrochenen Mann am Ende zu. 

„Povero Buoso“, „Armer Buoso“. Mit diesen Worten hebt Puccinis Einakter Gianni Schicchi an, unmittelbar hinein in eine Trauer heuchelnde Familie. Der alte Buoso Donati – zu Lebzeiten von der Welt unverstanden wie Schönbergs  Protagonist – ist verstorben und hat testamentarisch die lieben Verwandten enterbt. Diese rufen, noch ehe jemand vom Ableben Buosos erfahren hat, den gleichermaßen listigen wie arglistigen Gianni Schicchi herbei. Mit seiner Hilfe soll ein neues Testament zugunsten der um Haus, Maultier und die Mühlen von Signa feilschenden Familie aufgesetzt werden. Ob die Rechnung aufgeht?  
Puccini und Schönberg?
Die Gegenüberstellung des Vollenders der großen italienischen Oper des 19. und des Begründers der Neuen Musik am Beginn des 20. Jahrhunderts mag auf den ersten Blick irritieren. Allzu schnell scheint die Fachwelt gelegentlich geneigt, Puccini auf seine Qualitäten als überragender Melodiker und Musikdramatiker zu reduzieren. Er besitzt, so etwa der  Puccini-Spezialist Mosco Carter, „äußerst empfi ndliche Antennen für ‚le cose piccole‘, für die kleinen Dinge im Leben von kleinen, unbedeutenden Leuten und für ‚grande dolore in piccole anime‘, die großen Schmerzen in kleinen Seelen.“

Dass derselbe Puccini kompositorisch immer auf der Höhe der Zeit – bisweilen dieser sogar voraus – agiert, wird gerne bei der Betrachtung von Leben und Werk hintangestellt. Schon seit Tosca und Madama Butterfly verwendet er  Ganztonleitern, experimentiert mit Bitonalität und unaufgelösten Dissonanzen – zur selben Zeit, als Schönberg sich ebenfalls von der traditionellen Harmonielehre zu lösen beginnt – und wagt sich in seiner unvollendet gebliebenen Oper Turandot über die Grenzen der Atonalität hinaus.
Meisterlicheres ist der Neuen Musik bis heute nicht gelungen: die Verbindung vollkommener Spontaneität, überströmender Fülle und klarster Prägnanz.
Theodor W. Adorno zum „Verständnis Schönbergs“
Puccini besitzt schließlich auch ein untrügliches Gespür für den Riss durch die Welt, für die Umbrüche und Widersprüche seiner Zeit. Das wird nicht zuletzt im Kontext des „komischen“ Einakters Gianni Schicchi mehr als deutlich, dessen  „biografische Bezüge“, so der große Puccini-Kenner Dieter Schickling, „bisher überhaupt nicht gesehen“ wurden: „Es ist eine zynische Abrechnung mit der Umwelt, in der er [Puccini] aufgewachsen war und in der er bis zu seinem Tod lebte,  eine Abrechnung mit der ambivalent geliebten und gehassten eigenen Familie und in einem weiteren Sinn mit dem ihm so vertrauten allgemeinen Bewusstseinszustand seiner unmittelbaren ‚Gesellschaft‘.“ (Schickling)
Überströmende Fülle
Im Gegensatz dazu wird das unendlich vielschichtige Werk Schönbergs gerne auf die Begründung der Zwölftonmusik,  die „Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“, verengt. Seine Musik gilt gemeinhin als intellektuell und verkopft. Dabei hatte bereits ausgerechnet Theodor W. Adorno in einem längeren Aufsatz zum „Verständnis Schönbergs“ klug erkannt: „Schönberg ist als Typus ein naiver Künstler gewesen. Wäre das Wort Musikant nicht so schmählich mißbraucht worden, man könnte es auf seine Ursprünge anwenden. Er sprudelte über vor Musik wie nur je einer aus dem wienerisch-slawisch-ungarischen Kulturkreis.“
Kostümfigurinen von Pascal Seibicke zur Glücklichen Hand
Und über die in tausend Farben schillernde, gerade eben nicht zwölftönige Musik zur Glücklichen Hand urteilt der Prophet der „Philosophie der neuen Musik“ ungeahnt schwelgerisch und geradezu emotional hingerissen noch im Jahr 1955: „Meisterlicheres ist der Neuen Musik bis heute nicht gelungen: die Verbindung vollkommener Spontaneität, überströmender Fülle und klarster Prägnanz.“ Mit ähnlichen Worten und ähnlicher Begeisterung urteilt Dieter  Schickling über Puccinis Schicchi-Partitur: Eine so „hinreißende Brillanz hat Puccini nie zuvor und auch nicht mehr danach erreicht. Die mitten im Krieg entstandene Komödie ist seine größte Annäherung an den Gestus neuer Musikdramatik und zugleich die Summe seiner kompositorischen Technik.“

Es überrascht daher nicht, dass beide Komponisten einander mit höchster Wertschätzung begegneten. So wohnte etwa Puccini am 1. April 1924 der italienischen Erstaufführung von Schönbergs Melodram Pierrot lunaire in Florenz bei. In dem kleinen Aufsatz "Mein Publikum" aus dem Jahr 1930 erinnert Schönberg an diese Begegnung und würdigt Puccini anerkennend als einen „Sachkönner, der, bereits krank, eine sechsstündige Reise machte, um mein Werk kennenzulernen, und mir nachher sehr Freundliches sagte: das war schön, auch wenn ihm meine Musik doch fremd geblieben sein sollte.“ Puccini seinerseits beschreibt diese Bekanntschaft mit Schönberg und dessen Pierrot – in der Überlieferung des Freundes Guido Marotti – mit den folgenden Worten: „Um den Entwurf einer derartigen  musikalischen Welt zu erreichen, ist es notwendig, jeden gewöhnlichen harmonischen Sinn überwunden zu haben, das heißt eine von der gegenwärtigen völlig verschiedene Natur zu haben. Wer sagt uns, dass Schönberg nicht ein Ausgangspunkt für ein fernes zukünftiges Ziel ist?“
Neue Wege
Die glückliche Hand – Gianni Schicchi: Zwei Werke auf Augenhöhe, die innerhalb desselben Jahrzehnts zu Papier gebracht werden. Schönberg arbeitet von 1910 bis 1913 an seinem „Drama mit Musik“ und vollzieht in diesen Jahren auch den entscheidenden Schritt: Wie ein halbes Jahrhundert zuvor schon Richard Wagner beginnt er, „seine Texte fortan soweit wie möglich selbst zu gestalten“ (Alexander L. Ringer), als Reaktion auf eine neue musikalische Sprache, die „grundsätzliche Änderungen in der textlichen Substanz“ forderte. 

Puccini, weiterhin auf die Zusammenarbeit mit Librettisten bauend, verlässt die Pfade des großen Melodramma und wendet sich ab 1913 – durchaus in bewusster Abgrenzung von der Idee des Wagnerischen Gesamtkunstwerks – der  Idee eines aus drei selbständigen Einaktern zusammengesetzten Abends zu; der später üblich gewordene Titel Il Trittico (Das Triptychon) wurde vermutlich erst um 1918 durch den Verleger Giulio Ricordi ins Spiel gebracht. Der eröffnenden, „um 1910“ angesiedelten Gegenwartstragödie Il Tabarro (Der Mantel) folgt als lyrisches Seitenstück der Kloster-Einakter Suor Angelica, dessen Handlung im 17. Jahrhundert spielt. Als heiteres Satyrspiel beschließt der einer Episode aus  Dante Alighieris Göttlicher Komödie entlehnte Gianni Schicchi das Triptychon. Die Uraufführung des ganzen Zyklus’ erfolgt 1918 an der New Yorker Met, ein Jahr später erlebt Rom die italienische Erstaufführung. Schönbergs Glückliche Hand hingegen erblickt erst 1924 an der Wiener Volksoper das Licht der Welt.
Ko s t ü m f i g u r i n e n v o n P a s c a l S e i b i c k e z u G i a n n i S c h i c c h i 
Die Inszenierung
In der Gegenüberstellung einer späten Puccini-Oper und eines Schönbergs der mittleren Schaffensperiode liegt auch für Generalmusikdirektor Enrico Calesso der besondere Reiz, um „Puccini als großem Komponisten des 20. Jahrhunderts gerecht zu werden und die Moderne in seinen Partituren wieder zu entdecken.“ Calesso, der sich in den vergangenen Jahren auch international einen Namen als Sachwalter der Opern Puccinis erworben hat, wird in dieser Produktion Schönbergs expressionistische Klangfarbenpartitur der Glücklichen Hand in der Transkription für Bariton und Kammerensemble von Eberhard Kloke zur Uraufführung bringen.

Mit der Inszenierung dieses hoch spannenden Doppelabends Die glückliche Hand – Gianni Schicchi gibt der junge französische Regisseur Benjamin Prins sein Regiedebüt am Mainfranken Theater. Engagements führten Prins zuletzt unter anderem an die Opera Fuoco Paris, an die Opera Zuid Maastricht, an das Staatstheater Braunschweig, das Anhaltische Theater Dessau sowie wiederholt an das Theater Erfurt.
Indem wir in unserer Aufführung Gianni Schicchi – eine makabre Komödie – und Die glückliche Hand – ein avantgardistisches Werk – kombinieren, befinden wir uns mitten in einer großen ästhetischen Kluft:
zwei Werke zusammen zu inszenieren, die a priori nichts miteinander zu tun haben.
Benjamin Prins
Der Regisseur erläutert jedoch weiter: "Und doch kann ich sie dank eines dramaturgischen Tricks, den ich entwickelt habe und den Sie bald entdecken werden, zusammenbringen. Und plötzlich schließen beide Werke nicht mehr einander aus, sondern erhellen sich gegenseitig.“

Als Bühnen- und Kostümbildner konnte einmal mehr Pascal Seibicke für das Mainfranken Theater gewonnen werden. Hier hat er bereits mit seinen spektakulären Kostümbild-Entwürfen zu Meyerbeers Hugenotten und John Adams’ Nixon in China für Furore gesorgt. Außerdem zeichnete er für die Gesamtausstattungen von Strauss’ Ariadne auf Naxos und das in der Saison 19/20 geplante Rheingold verantwortlich. Nach über einem Jahr ist in dieser Produktion erstmals wieder das gesamte Opernensemble des Mainfranken Theaters zu erleben. Held des Auftakt-Opern-Doppels ist Bariton Kosma Ranuer, der in Würzburg bereits als Gunter (Götterdämmerung) und Rigoletto eindrucksvolle  Rollenportraits auf die Bühne gebracht hat. Ranuer wird sowohl dem Protagonisten der Glücklichen Hand als auch dem schon von Dante  Alighieri, dessen Todestag sich am 14. September zum 700. Mal jährt, in die Hölle verbannten Gianni Schicchi Gestalt und Stimme(n) verleihen.
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